10
In diesem Universum gibt es keinen sicheren Ort und keinen sicheren Weg. Überall lauern Gefahren.
Zensunni-Aphorismus
Auf der Nachtseite von Ix fiel ein planmäßig erwartetes Frachtshuttle aus der Ladebucht eines Heighliners im Orbit. In der unbewohnten Wildnis beobachtete eine versteckte Sardaukar-Wachstation, wie die leuchtend roten Triebwerksspuren des Gefährts in ihren Überwachungsbereich eindrangen. Der Kurs führte zur Raumhafenschlucht, dem streng kontrollierten Zugang zur unterirdischen Hauptstadt.
Die Sardaukar bemerkten nichts von einem zweiten, viel kleineren Fluggefährt, das sich im Schatten des ersten der Planetenoberfläche näherte. Es war eine Kampfgondel der Atreides. Eine beträchtliche Bestechungssumme war aufgeboten worden, damit der Heighliner mit einem Tarnsignal-Sender ausgestattet war, der die Überwachungsstation am Boden in die Irre führte. So konnte sich das schwarze, unbeleuchtete Gefährt unbemerkt bewegen, zumindest bis es Gurney Halleck und Thufir Hawat gelungen war, einen Zugang zur unterirdischen Stadt zu finden.
Gurney bediente die Kontrollen des winzigen, flügellosen Flugzeugs. Sie lösten sich langsam aus der Triebwerksspur des Frachtshuttles, dann raste die schwarze Gondel tief über die zerklüftete Landschaft des Nordens hinweg. Die unbeleuchteten Instrumente flüsterten ihm Daten in den Kopfhörer und warnten ihn vor den bewachten Landeplätzen.
Gurney vollführte waghalsige Manöver, die er von Dominic Vernius und seinen Schmugglern gelernt hatte. Nur knapp sauste er über felsige Erhebungen, Gletscher und Hochtäler hinweg. Wenn er damals geschmuggelte Fracht befördert hatte, war es darum gegangen, den Patrouillen der Corrinos zu entgehen. Also wusste er, wie er unterhalb des Ortungsbereichs der Tleilaxu-Sicherheitssysteme blieb.
Während des Fluges saß Thufir völlig reglos im Mentatenmodus da und kalkulierte ihre Möglichkeiten durch. Er hatte alle Notausgänge und Geheimwege memoriert, an die sich Rhombur noch erinnern konnte. Doch immer wieder störten menschliche Sorgen seine Konzentration.
Obwohl Leto ihn niemals wegen der Vorfälle kritisiert hatte, die man ohne weiteres als Sicherheitslücken interpretieren konnte – den Tod von Herzog Paulus in der Stierkampfarena, die Explosion des Luftschiffs –, hatte Thufir seitdem seine Anstrengungen verdoppelt. Er setzte jede Fähigkeit seines Mentatenarsenals ein und entwickelte ständig neue.
Jetzt ging es darum, dass Gurney und er in die besetzten Städte von Ix eindrangen und Schwachstellen ausspionierten, um eine größere militärische Aktion vorzubereiten. Nach den jüngsten Tragödien hatte Herzog Leto keine Angst mehr, anschließend Blut an den Händen zu haben. Wenn Leto entschied, dass die Zeit gekommen war, würde das Haus Atreides zuschlagen, und zwar ohne Gnade.
C'tair Pilru, ein Widerstandskämpfer, mit dem sie seit langem in Kontakt standen, hatte sich geweigert, seine Bemühungen auf Ix aufzugeben, obwohl die Tleilaxu immer härter durchgriffen. Aus gestohlenem Material hatte er wirksame Bomben und andere Waffen hergestellt, und vorübergehend hatte er sogar geheime Lieferungen von Prinz Rhombur erhalten – bis plötzlich der Kontakt abgerissen war.
Thufir hoffte, dass sie C'tair in dieser Nacht wiederfanden – sofern die Zeit reichte. Gurney und er hatten auf der Grundlage dürftiger Informationen einen möglichen Treffpunkt bestimmt und versucht, eine Nachricht in die Höhlen von Ix zu schicken. Rhombur hatte einen alten Militärcode des Hauses Vernius benutzt, der nur C'tair bekannt sein konnte, und einen Treffpunkt im Labyrinth geheimer Gänge und verborgener Kammern vorgeschlagen. Doch die Atreides hatten nie eine Antwort von ihm erhalten ... Also mussten sie sich völlig blind vorwärts tasten und konnten nur auf ihre Hoffnung und Entschlossenheit bauen.
Thufir blickte durch die kleinen Fenster der Gondel, um sich wieder in der Wirklichkeit zu orientieren. Er überlegte, wie sie vorgehen sollten, um die ixianischen Freiheitskämpfer aufzuspüren. Obwohl dieser Faktor in einer Mentatenanalyse eigentlich keine Rolle spielen sollte, fürchtete er, dass sie auf eine gehörige Portion Glück angewiesen waren.
* * *
C'tair Pilru hockte in einem muffigen Lagerraum in den oberen Stockwerken dessen, was einmal das Große Palais gewesen war, und hegte quälende Zweifel. Er hatte die Nachricht erhalten, sie decodiert – und kein Wort geglaubt. Seit vielen Jahren führte er nun schon seinen kleinen Guerillakrieg. Die Kraft zum Weitermachen bezog er nur selten aus Triumphen, sondern größtenteils aus hartnäckiger Entschlossenheit. C'tairs gesamtes Leben bestand aus dem Kampf gegen die Tleilaxu, und er hatte keine Ahnung, was aus ihm werden würde, wenn der Kampf jemals vorbei sein sollte.
Er hatte so lange überlebt, weil er in dieser einstmals schönen Untergrundstadt niemandem vertraute. Er wechselte seine Identitäten, hielt sich immer wieder an anderen Orten auf, schlug mit aller Kraft zu und flüchtete. Die Eroberer und ihre Sardaukar-Wachhunde konnten nur wütend und verwirrt zusehen. Seine Lieblingsbeschäftigung bestand darin, sich das detaillierte Bild der ursprünglichen Stadt ins Gedächtnis zu rufen – die hauchdünnen Verbindungswege und Straßen zwischen den Gebäuden, die wie Stalaktiten von der Höhlendecke hingen. Er stellte sich sogar die fröhlichen und tatkräftigen Menschen vor, das stolze Volk der Ixianer, wie es einmal gewesen war, bevor es mit der grausamen Realität der Tleilaxu-Invasion konfrontiert worden war.
Und nun wurden die Bilder seiner Erinnerung immer blasser. All das war schon so lange her ...
Vor kurzem war er auf die Nachricht von Vertrauten des Prinzen Rhombur Vernius gestoßen. War es nur ein Trick? C'tair hatte ständig mit der Gefahr gelebt, und jetzt musste er dieses Risiko einfach eingehen. Er wusste, dass der Prinz sein Volk niemals aufgeben würde, solange er lebte.
Während er in der Kälte und Dunkelheit des Lagerraums wartete und wartete, fragte sich C'tair, ob er vielleicht soeben jeden Bezug zur Wirklichkeit verlor ... vor allem, nachdem er vom schrecklichen Schicksal Miral Alechems erfahren hatte, seiner Mitkämpferin und Geliebten, die unter anderen Voraussetzungen möglicherweise seine Frau geworden wäre. Die widerwärtigen Invasoren hatten sie gefangen genommen und benutzten ihren Körper für ihre mysteriösen, brutalen Experimente. Er wollte sich nicht so an Miral erinnern, wie er sie zuletzt gesehen hatte – eine Missbildung, ein hirntotes Stück Fleisch, das in eine biologische Fabrik verwandelt worden war.
Mit jedem Atemzug verfluchte er die Tleilaxu aufs Neue für ihre Grausamkeiten. Er presste die dunklen, müden Augen fest zusammen, versuchte seine Atmung zu beruhigen und erinnerte sich nur noch an Mirals große Augen, ihr hübsches, schmales Gesicht und ihr unordentlich geschnittenes Haar.
Zorn, nahezu selbstmörderische Depressionen und die Schuld des Überlebenden überwältigten ihn. Er hatte sich mit fanatischer Entschlossenheit ein Ziel gesetzt, aber wenn Prinz Rhombur wirklich jemanden zu ihm geschickt hatte, der ihm helfen sollte, war dieser Albtraum vielleicht schon bald vorbei ...
Plötzlich hörte er ein lautes mechanisches Surren und zog sich tiefer in die Dunkelheit zurück. Dann folgte ein leises Kratzen, als sich jemand am Schloss zu schaffen machte, bis sich die Tür einer autonomen Liftkabine öffnete, in der sich die Schattenrisse zweier Gestalten abzeichneten. Sie hatten ihn noch nicht bemerkt. Er konnte immer noch fliehen oder versuchen, sie zu töten. Aber sie waren viel größer als Tleilaxu, und sie bewegten sich nicht wie Sardaukar.
Der ältere Mann wirkte zäh wie Shigadraht, hatte ein sehniges Gesicht und die saphofleckigen Lippen eines Mentaten. Sein blonder, kräftig gebauter Begleiter zeichnete sich durch eine auffällige Gesichtsnarbe aus. Er packte ein kleines Werkzeugset zusammen und steckte es wieder in die Tasche. Mit vorsichtiger Zuversicht verließ der Mentat als Erster den Lift. »Wir kommen von Caladan«, sagte er.
C'tair wagte es auch jetzt nicht, sich zu zeigen oder auch nur zu bewegen. Sein Herz raste. Es konnte immer noch ein Trick sein, aber jetzt gab es für ihn kein Zurück mehr. Er musste sich Gewissheit verschaffen. Seine Finger tasteten nach dem Griff des selbst geschmiedeten Dolchs, den er in der Hosentasche mit sich führte. »Ich bin hier.«
C'tair trat aus dem Schatten. Beide Männer blickten in seine Richtung und versuchten, im schwachen Licht genauere Einzelheiten zu erkennen. »Wir sind Freunde Ihres Prinzen. Sie sind nicht mehr allein«, sagte der Mann mit der Narbe.
Mit behutsamen Schritten, als würden sie über Glasscherben laufen, trafen sich die drei Männer in der Mitte des Lagerraums. Sie gaben sich nach Tradition des Imperiums die Hände, indem sie nur die Finger aneinander legten, und stellten sich zögernd vor. Die Männer erzählten C'tair, was Rhombur widerfahren war.
C'tair schwindelte und war sich nicht mehr sicher, ob er Wirklichkeit und Phantasie noch auseinander halten konnte. »Da war auch ... ein Mädchen. Kailea? Ja, Kailea Vernius.«
Thufir und Gurney warfen sich einen kurzen Blick zu und waren sich einig, dieses unangenehme Thema vorläufig zu vermeiden. »Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Gurney. »Wir müssen so viel wie möglich in Erfahrung bringen.«
C'tair sah die beiden Atreides-Männer an und überlegte, wo er anfangen sollte. Nackter Zorn baute sich in ihm auf, bis es ihm nicht mehr möglich war, ihnen einfach zu erzählen, was er gesehen hatte, was er in all den Jahren erduldet hatte. »Ich werde Ihnen zeigen, was die Tleilaxu aus Ix gemacht haben.«
* * *
Unauffällig gingen die drei Männer durch die Menge der geknechteten Arbeiter und betrachteten stumm die Zeichen des allgegenwärtigen Zerfalls. Sie benutzten C'tairs zahlreiche gestohlene Identitätskarten, um Sicherheitsbereiche zu betreten und wieder zu verlassen. Dieser einsame Rebell hatte gelernt, sich unbemerkt zu bewegen, und die Ixianer blickten kaum noch auf etwas anderes als ihre Füße.
»Wir wissen seit einiger Zeit, dass der Imperator etwas mit dieser Sache zu tun hat«, sagte Thufir. »Trotzdem verstehe ich nicht, warum er es für nötig hält, zwei komplette Sardaukar-Legionen auf Ix zu stationieren.«
»Ich habe vieles gesehen ... aber ich kenne immer noch nicht alle Antworten.« C'tair zeigte auf ein monströses Gebilde, das träge über eine Laderampe wankte. Eine Maschine, die aus vereinzelten menschlichen Komponenten bestand ... hier ein verunstalteter Kopf, dort ein deformierter halber Rumpf ... »Wenn Prinz Rhombur zu einem Cyborg geworden ist, bete ich darum, dass er nicht im entferntesten mit dem zu vergleichen ist, was die Tleilaxu hier geschaffen haben.«
Gurney war entsetzt. »Was für ein Dämon ist das?«
»Ein Bi-Ixianer, ein Opfer von Folter und Exekution, das mithilfe von Maschinen reanimiert wurde. Es hat kein eigenes Leben mehr, es bewegt sich nur noch mechanisch. Die Tleilaxu bezeichnen sie als ›Exempel‹ – sie sind genauso abartig wie die Individuen, denen ihr Anblick Vergnügen bereitet.«
Thufir beobachtete die Szene leidenschaftslos und speicherte jedes Detail, während es Gurney sichtlich schwer fiel, seine Gesichtszüge zu beherrschen.
C'tair brachte ein verbittertes Lächeln zustande. »Einmal habe ich einen gesehen, der eine Sprühvorrichtung auf dem Rücken hatte, doch dann versagte die Biomechanik, und das Ding brach zusammen. Nur die Düsen funktionierten noch, und zwei Tleilaxu-Meister wurden von oben bis unten mit Farbe besprüht. Sie regten sich furchtbar auf und beschimpften das Maschinenwesen, als hätte es diesen Vorfall absichtlich provoziert.«
»Vielleicht war es wirklich so«, sagte Gurney.
In den folgenden Tagen beobachteten und erkundeten die Männer ... und waren entsetzt über das, was sie sahen. Gurney wollte sofort etwas unternehmen, um den Grausamkeiten ein Ende zu setzen, doch Thufir riet zur Vorsicht. Sie mussten zurückkehren und dem Haus Atreides Bericht erstatten. Erst dann – wenn der Herzog einverstanden war – konnten sie einen Plan für einen wirksamen und koordinierten Angriff ins Auge fassen.
»Wir würden Sie gerne mitnehmen, C'tair«, bot Gurney dem Ixianer an. »Wir können Sie von hier wegbringen. Sie haben genug gelitten.«
C'tair wies den Vorschlag energisch zurück. »Ich gehe nicht. Ich ... ich wüsste gar nicht, was ich tun sollte, wenn ich nicht mehr kämpfen könnte. Ich gehöre hierher. Ich muss die Unterdrücker quälen und ärgern, wo ich kann, damit das Volk der Ixianer weiß, dass ich den Kampf nicht aufgegeben habe, dass ich niemals aufgeben werde.«
»Prinz Rhombur hat bereits vermutet, dass Sie so reagieren würden«, erwiderte Thufir. »In unserer Gondel haben wir jede Menge Ausrüstung für Sie dabei: Sprengsätze, Waffen, sogar Lebensmittel. Damit Sie sich eine Weile über Wasser halten können.«
C'tair schwindelte, als er sich die neuen Möglichkeiten vorstellte. »Ich wusste, dass mein Prinz uns niemals aufgegeben hat. Ich habe so lange auf seine Rückkehr gewartet ... ich habe so lange gehofft, eines Tages an seiner Seite kämpfen zu können.«
»Wir werden Herzog Leto Atreides und Prinz Rhombur Vernius Bericht erstatten. Haben Sie Geduld.« Thufir wollte noch mehr sagen, ihm etwas Konkretes versprechen. Aber dazu war er nicht befugt.
C'tair nickte und konnte es kaum erwarten, neue Pläne zu schmieden. Nach so vielen Jahren gab es endlich eine einflussreiche Macht, die ihn vielleicht bei seinem Kampf unterstützen würde.